Habe ich einen ganzen Monat gebraucht, um über diese traurigen vier Wochen zu schreiben, nachdem mir die Jugend solche Freude bereitete?
Es kamen Abschiedsmeldungen zu Hauf in dieser Zeit. Jeder Mensch, der uns in diesen letzten Wochen verlassen hat, fehlt! Jeder hinterlässt seine eigene Lücke. Von jedem kennen wir eine Seite seiner Persönlichkeit, die unsere Mitmenschen nicht so empfinden. Was mich beeindruckt hat, ist die Liebe, die Ehrlichkeit und die Eigenwilligkeit, mit der die einzelnen Personen verabschiedet wurden. Gewohnt war ich eine traditionelle, ziemlich starre Zeremonie. Da kam eine neue Seite zum Tragen. Die trauernden Menschen schienen ehrlich und offen den Wünschen der Verstorbenen zu folgen. Priester und Pfarrherren sagten nur, was von den Hinterbliebenen für gut befunden worden war. Auch sie halfen mit, der neuen Ehrlichkeit zu dienen.
Die Förmlichkeit war zugunsten der ehrlichen Andacht, der liebenden Abschiedsworte, der hilfreichen Tröstungen an einen ganz kleinen Platz gerutscht. Und die Wärme der Betroffenen reichte weit über alle Grenzen hinweg.
Die Gesellschaft ist offen geworden. Sie erlaubt sich viel. Bekleidung und Umgang mit Nachbarn ist freier geworden. Man duzt sich rasch, man küsst sich zum Grüssen und Abschiednehmen, man umarmt einander, wenn es sich richtig anfühlt. Der Herr Knigge, der alles so eng begrenzte und erklärte, wäre kaum zufrieden, denn seine Regeln waren starr, und damit nicht immer ehrlich, sondern einfach so, wie es „Brauch und Sitte“ war.
Manchmal wünsche ich mir den Herrn Knigge ein wenig zurück: wenn wir im Theater sitzen und Menschen mit der Rückseite gegen uns durch drücken (die haben nie wie ich seinerzeit bei den Damen Somolow im Tanzkurs gelernt, wie man durch eine Reihe Theaterbesucher geht). Wenn dieselben Menschen in verwaschenen und verlöcherten Jeans auftreten passt es mir auch nicht.
Alles hat eine Kehrseite. Ein wenig Förmlichkeit gefällt mir halt schon auch.