MAMA

Mit dem Älterwerden kommen die Gedanken in der Dusche zumeist auf einem weiten Weg zu mir. Sie erreichen mich aus Tiefen, und die Erinnerung wird plötzlich wieder so lebendig.

Muttertag. Erste Klasse Primarschule. Die ersten paar Wochen Unterricht liegen hinter den vierzig kleinen Mädchen, die mit mir bei derselben Lehrerin Lesen und Schreiben lernen.

Schon naht der Muttertag. Für die Oma, stets schwarz gekleidet, mager, etwas verhärmt, ein schlimmer Tag. Ihre Tochter, meine Mutter, wird ihr nie mehr etwas zum Muttertag schenken. Schon seit sechs Jahren liegt sie auf dem Friedhof.

Als die Lehrerin den Schülerinnen verkündet, man mache ein Geschenk für die Mama, strecke ich, wie gelernt, meinen Arm, meine Hand mit dem Zeigefinger voran. Endlich nimmt sie mich wahr. Ich erkläre, ich hätte nur die Oma zuhause. Das macht nichts, ist die kurze Antwort. Die Lehrerin verteilt jedem Kind ein Kärtchen. An die Wandtafel schreibt sie MAMA. Es ist noch Krieg, und Papier ist rar. Auf das Kärtchen dürfen wir das Wort schreiben und mit Farbstiften einen Blumenkranz darum. Grosser Luxus, denn wir schreiben sonst auf eine Schiefertafel mit Griffeln!

Das Kärtchen bringe ich der Oma am Samstag vor dem Muttertag. Ich verstehe nur halbwegs, warum sie weint.

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