Meine Oma hiess Johanna und wie es damals üblich war hat sie ihren Cédric in jugendlichem Alter geheiratet. Das war „einfach so“. Man durfte sich ja in diesem frühen letzten Jahrhundert, als sie so um 18 Jahre alt war, kaum ansehen. Doch denke ich die Hormone haben auch damals ihre Wirkung getan. Das hiess heiraten, dann war die Sache eledigt.
Leider war diese Ehe nicht sehr glücklich. Die Frau kam aus dem Baden Württembergischen Raum, ihr Ehemann aus dem lebenslustigen Elsass. Wo er immer zu Spass und Fröhlichkeit neigte, war sie eine spröde Schönheit. Eine Tochter fand sich bald nach der Hochzeit ein und bereitete den Eltern, jedem auf seine Art, grosse Freude. Diese Tochter – meine Mutter – war eine fröhliche Frau, sportlich, intelligent, verwöhnt, hübsch. Unter traurigen Umständen, die mit der Situation der Schweiz und der jüdischen Schweizer am Anfang des Zweiten Weltkrieges zusammen hingen, starb sie einen sehr frühen Tod.
Die Trauer der Grossmutter habe ich stets gespürt, ihre spröde, oft fast bissige Art und ihre Strenge mir gegenüber brachten mir viel Ungemach. Die unheimliche ausweglose Trauer meines Vaters, der damals noch keine dreissig Jahre alt war, hielt er mir gegenüber im Zaum, aber er war streng und oft abweisend. Opa Cédric verlor sein fröhliches Naturell nie ganz. Er fand Trost in Reisen, in Bekanntschaften und vor allem in Büchern und in seinem nie zu stillenden Wissensdurst.
Jetzt bin ich alt geworden. Die Figuren meiner Kindheit begleiten mich auf dem Weg dem Fluss entlang. Die Blätter sind golden, doch ich weiss, sie halten nur noch wenige Tage, und dann wird alles kahl. Ich habe in den letzten Monaten unendlich viele liebe Menschen verloren. Die Verluste drücken mich. Und ich stelle mir vor, ich wandere diesem Fluss entlang und entledige mich allem, was ich nicht brauche. Ich stelle mir vor, ich werfe meine Taschen und deren Inhalte in das Bachbett, die Echarpe, die Schuhe, die Socken, den Mantel. Und ich laufe weiter, und ich friere nicht. Ich werfe meine traurigen Gedanken nach, meine Erinnerungen, meine Gefühle.
Mir scheint, wir wandern die letzten Wege mit kleinen Päcklein unter dem Arm, in den Taschen und in den Händen, die wir unterwegs streuen. So lassen wir das eine und das andere los: Fähigkeiten, Gewissheiten, Materielles, Vorurteile und Ansichten, Überzeugungen und dazu auch die Hierarchie unserer Gewohnheiten. Es sollte dabei leichter werden, doch haben wir auch an Kraft verloren, so gleicht sich dies wie in einer einfachen Relativitätsrechnung aus.>>>