Esther war nicht katholisch. Bernadette schon. Esther trug ihren sechs-zackigen Stern, Bernadette ein kleines Kreuz um den Hals. Esther besuchte den religiösen Unterricht, wo sie andere Buchstaben und eine an Vokalen reiche Sprache lernte, Dieser Unterricht fand ausserhalb des Schulhauses, das beide Mädchen besuchten, statt. Wenn Bernadette Religionsunterricht hatte, kam ein Kaplan in schwarzer Kutte und erzählte vom Heiland. Er verteilte die beliebten Heiligenbildchen, wenn seine Schülerinnen nachweisen konnten, regelmässig die Christenlehre besucht zu haben. In der gleichen Stunde sass Esther zusammen mit den protestantischen Schülern in der Schulstube und lernte Kirchenlieder und Biblische Geschichte. Sie lernte leicht auswendig und die Bibel fand sie spannend, so war sie eine der Besten in dieser Gruppe.
Esther und Bernadette mochten einander, hatten einen gemeinsamen Heimweg und ein gemeinsames Interesse: die Wilden Tiere. Bernadette kannte sie alle: sie sprach von Löwen und Elefanten, von Zebra und Nashörnern, wie wenn sie mit ihnen zusammen im Garten gespielt hätte. Andächtig und bewundernd hörte Esther der Freundin zu, und warf ab und zu eine Bemerkung ein, die bewies, dass auch sie sich mit dieser Fauna ein wenig auskannte.
Bernadette verkündete eines Tages stolz, sie werden Ordensfrau und gehe in die Mission. Esther wollte das natürlich auch sehr gerne, weil Bernadette erklärte, die Mission sei in Afrika und so würde sie alle ihre geliebten Wilden Tiere sehen und erforschen können. Esther war tief betrübt, als Bernadette ihr erklärte, das sei vollkommen unmöglich: denn du bist jüdisch – da kommen nur Katholiken hin.!
Epilog: als gestandene Grossmütter sind Bernadette und Esther, jede mit der eigenen Familie, auf Safari gewesen. Bernadette kennt sich immer noch etwas besser aus mit der wilden Fauna als Esther. Und sie mögen einander noch immer!
